- Medizinnobelpreis 1961: Georg von Békésy
- Medizinnobelpreis 1961: Georg von BékésyDer Amerikaner ungarischer Herkunft erhielt den Nobelpreis »für seine Entdeckungen im physikalischen Mechanismus der Erregungen in der Schnecke des Ohrs«.Georg von Békésy, * Budapest 3. 6. 1899, ✝ Honolulu13. 6. 1972; 1923 Promotion im Fach Physik und Eintritt ins Forschungslabor der Ungarischen Post- und Telefongesellschaft, 1946 Wechsel an das Karolinska Institut Stockholm, 1947 an die Harvard University in Cambridge (Massachusetts) und 1966 an die University of Hawaii.Würdigung der preisgekrönten LeistungWie hören wir eigentlich? Schallwellen treten von der Ohrmuschel geleitet ins Ohr, versetzen das Trommelfell in Schwingungen und das Trommelfell überträgt seine Schwingungen über die als Verstärker wirkende Kette der kleinen Knochen im Mittelohr (Steigbügel — Hammer — Amboss) auf die Öffnung des Innenohrs. Dort aber verschwinden die Schwingungen im zunächst unbekannten Dunkel der Schnecke. Solange die Vorgänge im tief im Schädelknochen versteckten Innenohr weder beobachtbar noch experimentell beeinflussbar waren, gab es zur Erklärung der Übersetzung von Schwingungen in Nervenimpulse und äußerst differenzierte Höreindrücke nur Spekulationen.Ein schillernder Exot?Ein kunstliebender Physiker aus einer Diplomatenfamilie brachte buchstäblich Licht ins Dunkle der offenen Fragen der Sinnesphysiologie. Er entwickelte elegante neue Methoden, um das winzige und versteckt liegende Innenohr bei der Arbeit zu beobachten und zu filmen. Er formulierte mathematische Theorien zur Beschreibung der Innenohrfunktion und konstruierte ein ebenso einfaches wie hinreichendes mechanisches Modell des Innenohrs, mit dem sich noch die Details der neuromechanischen Frequenzanalyse beim Hören simulieren ließen. Ausgerechnet mit dem eher konventionellen Ansatz einer Nachformung der Natur in einfachen mechanischen Modellen brachte Békésy das Verständnis für die Funktion eines der differenziertesten Sinnesorgane entscheidende Schritte weiter. In seiner Person scheinen noch einmal wie in der Renaissance die unterschiedlichsten Interessen zusammengekommen zu sein. Innerhalb der Gruppe der naturwissenschaftlichen Nobelpreisträger mit zielstrebiger akademischer Karriere nimmt sich Békésy mit seiner Biografie fast wie ein schillernder Exot aus.Gleichwohl waren diese Forschungen erst auf dem Boden des im 20. Jahrhundert technisch Machbaren möglich geworden: Von der Mikropräparationstechnik zur Freilegung der Basalmembran im Schneckengang über die Visualisierung der Mikroschwingungen im Innenohr mit stroboskopischen Lichtblitzen und Mikrokinematographie bis zur Aufzeichnung der Erregungspotenziale in den Haarzellen durch pneumatisch gesteuerte Mikroelektroden kombinierten diese Forschungen hoch spezialisierte technische Verfahren.Was Békésy so brillant zu seinem Lebenswerk gemacht hatte, war ein eher zufälliges Nebenprodukt der Widrigkeiten des ungarischen Telefonnetzes nach dem Ersten Weltkrieg. Allein das Post- und Telefonamt konnte Békésy nach seinem Studium einen Arbeitsplatz mit physikalischem Labor in Ungarn anbieten, weshalb er dort als Verantwortlicher für die Wartung der Telefon-Fernleitungen anfing. Die beinahe täglichen Störungen machten ihn auf die Elektrotechnik und Mechanik der Tonübertragung und des Hörens aufmerksam — von der Tonerzeugung über Mikrofon, Kabel und Lautsprecher bis zum Ohr und Nervensystem. Diese Problemkette, in der das Ohr zunächst das Zielorgan einer elektrotechnischen Tonübertragung war, prägte dabei Békésys Forschungen zur Physiologie des Hörens. Seine Erfahrungen als Physiker und Elektrotechniker resultierten in einer elektrischen Biophysik des Hörens.Momentaufnahmen eines SinnesorgansZunächst entwickelte Békésy eine Technik, um die Schwingungen der Basalmembran in der Schnecke des Innenohrs direkt zu beobachten. Dazu legte er unter einem Mikroskop mit winzigen Scheren, Bohrern und Messern bei Tieren oder auch bei gerade Verstorbenen die Schnecke frei. Um dabei das Austrocknen des Ohrs zu verhindern, musste er es fortwährend mit einer Nährlösung spülen und somit unter Wasser arbeiten. An der frei präparierten Basalmembran konnte er dann mit speziellen Filmaufnahmen beobachten, dass Schallschwingungen die ganze Schnecke hinaufziehen, aber in Abhängigkeit ihrer Tonhöhe in einer bestimmten Distanz zum Eingang ihr Maximum haben. Während hohe Töne unmittelbar am Eingang der Schnecke ihre maximale Wellenhöhe erreichen, werden tiefe Schallwellen erst in der Spitze maximal. Eine einfache Untersuchung der mechanischen Eigenschaften der Basalmembran ließ Békésy darauf aufmerksam werden, dass die Elastizität dieser Membran wie bei einem gleichmäßig dünner werdenden Gummistreifen zur Spitze hin beständig zunimmt. Aus einfachen mechanischen Gründen führen also Töne mit tiefer Frequenz zu großer Resonanz mit elastischeren Anteilen an der Spitze, hohe Frequenzen dagegen mit starreren am Eingang. Die Lokalisationstheorie des Hörens, nämlich die Annahme, dass bestimmte Tonhöhen auf exakt definierten Abschnitten der Schnecke gehört werden, wurde damit gut belegt.Ein solches System ließ sich vereinfacht als Modell nachbauen: Eine Plastikröhre simulierte die Schnecke und eine allmählich dünner werdende Gummilamelle die darin ausgespannte Basalmembran. Auch in diesem simplen Modell erzeugten Schallwellen in Abhängigkeit von ihrer Tonhöhe ein ortsfestes Resonanzmaximum, doch geriet die ganze Röhre trotz lokalen Maximums mehr oder weniger in Schwingungen. Anstatt das Modell in dieser Situation zu verwerfen, konnte Békésy mit einer ganz simplen Erweiterung demonstrieren, dass sein Modell gerade in dieser Besonderheit dem neuronalen Mechanismus des Hörens nahe kam: Anstatt die Schwingungen der Plastikröhre mit Stroboskop und Filmtechnik aufzuzeichnen, legte er seinen eigenen Unterarm als neuronalen Schwingungsabnehmer der Länge nach auf die Plastikröhre. Obwohl jeweils die ganze Röhre durch einen Ton in Schwingung versetzt wurde, fühlte es sich an, als würde lediglich ein kleiner Fleck gereizt. Wie im Innenohr machte das sensible Nervensystem der Tastempfindung im Unterarm aus einer ausgedehnten Schwingung mit lokalem Maximum einen exakt umschriebenen Vibrationseindruck. Die Plastikröhre mit aufgelegtem Unterarm war Békésys geniales »Modell der menschlichen Schnecke mit zugehörigem Nerv«. Es half, zunächst eine Theorie des Hörens anschaulich zu entwickeln, die dann von Békésy mit ausgefeilter Präzisionstechnik durch Ableitung der Nervenpotenziale aus den verschiedenen Abschnitten der Schnecke bestätigt werden konnte. Die Nervenzellen im Innenohr sind mit ihren Nachbarzellen verschaltet, aber üben bei Erregung einen hemmenden Einfluss aufeinander aus, so dass nur das lokale Maximum der Schallwelle als ein Höreindruck zum Gehirn geleitet wird. Békésys Plastikröhre mit aufgelegtem Unterarm war ein produktives Modell des Hörens.C. Borck
Universal-Lexikon. 2012.